Bedauerlich, dem Niedergang des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seines Qualitätsanspruchs an die journalistische Berichterstattung in so eindrucksvoller Weise beiwohnen zu dürfen. So lässt der NDR in seinem Medienformat „titel thesen temperamente“ den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über „die Ostdeutschen“ konstatieren:
„Diese Mehrheit wollte nicht vor allen Dingen Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, sondern sie hatten am Ende die Faxen dicke vom Trabi und wollten im Mercedes oder VW durch die Gegend gondeln“
— Ilko-Sascha Kowalczuk —
Gehört es heute zum Handwerkszeug eines Journalisten, die eigenen Prämissen in den Mund einer politisch und ideologisch willfährigen Sockenpuppe zu legen, um diese sodann als Vorzeigeintellektuellen und moralische Instanz im Kampf um die Deutungshoheit der ostdeutschen Geschichte zu präsentieren?
Was bitte befähigt Herrn Kowalczuk, ein Pauschalurteil über die „Ostdeutschen“ abzugeben?
Seine tragische Lebensgeschichte, die mit einer Selbstverpflichtung zum Eintritt in die Nationale Volksarmee (NVA) im zarten Alter von 12 Jahren begann und der daraus erwachsenden Folgen, deren er sich zwei Jahren später im Alter von 14 Jahren in vollem Umfange bewusst wurde und die in der Konsequenz wohl dazu führten, dass ihm ein Studium verwehrt wurde?
Die Peinigung, der er anderthalb Jahre nach seinem ideologischen Coming-Out durch Lehrer, Offiziere und Stasi-Leute ausgesetzt war und die tief in ihm den Wunsch nach einem sicheren Heimathafen im Schoße des bürgerlichen Liberalismus weckte?
Oder sein Geschichtsstudium, dass er nach eigenen Bekundem mit dem politischen Eifer der Abrechnung mit dem gerade niedergegangenen Gesellschaftssystem absolvierte oder wie er es beschrieb: „mit jakobinischem Furor und nicht frei von Ungerechtigkeit“1?
Auf der anderen Seite muss man sich freilich fragen, ob die Selbstreflexion des Herrn Kowalczuk über den eigenen Lebensweg nicht getrübt wurde durch das Gefühl der andauernden Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren sei und welches er nun mit Eifer und Enthusiasmus in die Breite der ostdeutschen Bevölkerung transportiert – immer auf der Suche nach dem Fehler „in der Masse“.
Vielleicht lässt sich die beklagenswerte Versagung der Hochschulzugansgberechtigung ja ganz profan mit der damaligen Reglementierung des ostdeutschen Bildungssystems und dem diesem zugrundeliegenden Leistungsprinzip begründen: Eben jenes führte in den Politechnischen und Erweiterten Oberschulen der damaligen DDR zu einer extremen Ausdünnung der Anzahl derjenigen Absolventen, denen letztlich der Zugang zum Studium gewährt wurde. In der Regel wurden nur 1-2 Schülern aus einer Abschlussklasse einer Polytechnischen Oberschule (POS, heute wohl Gesamtschule der Sekundarstufe I) mit einem erwarteten Notenschnitt von 1,0 – 1,2 der Zugang zur Erweiterten Oberschule (EOS, heute Gymnasium) gewährt. Ausnahmen gab es nur für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sich als Berufssoldaten in den Streitkräften verpflichteten. Diese Schüler konnten dann auch noch mit einem Notenschnitt weit jenseits der 2,5 das Gymasium besuchen sowie begehrte Sudienplätze an den staatlichen Hochschulen und Universitäten erlangen. Vielleicht lag es ja einfach daran, dass Herr Kowalczuk im Wettstreit der Besten einfach nur den kürzeren Strohhalm gezogen hat. Wir werden es wohl nie erfahren.
Wie dem auch sei – im Grunde genommen ist es ja lobenswert, wenn der Herr Historiker sein eigenes Trauma in seinen literarischen Ergüssen zu verarbeiten versucht – nichts befreit bekanntlich mehr, als sich den Frust von der Seele zu schreiben. Nur sollten diese Werke eben nicht als Gradmesser für ein gesamtgesellschaftliches Urteil über 12 Millionen Menschen in Ostdeutschland herhalten. Leider sind die einschlägigen Medienformate derzeit ganz scharf darauf, der Leser- resp. Hörerschaft einen möglichst authentischen und glaubwürdigen Zeitzeugen aus dem Osten zu präsentieren, der frei von politischen Altlasten agieren kann und dessen Liebe zum liberal-konservativen Parteienspektrum so rein wie Schneewitchens Leumund ist. Dabei vergessen sie eines: Die Menschen im Osten wollen sich weder von „wir brauchen eine wohltemperierten Grausamkeit“-Höcke, noch von „Freiheit statt Sozialismus“-Maaßen und „Wir haben eine Staatskrise“-Merz oder eben „der Osten hat eine präfaschistischen Disposition“-Kowalczuk die Welt erklären lassen.