Nachdem durch die Politik und die Presse als deren Steigbügelhalter die Russophobie als dominierendes Element im öffentlichen Diskurs der vergangenen Jahre lanciert wurde, herrscht unter der pseudo-intellektuellen Elite nicht nur in Deutschland unisono Einigkeit, dass das Böse im Osten und das Gute im Westen residiert. Der geistige Nährboden für diese Sichtweise wurde in den vergangenen 70 Jahren gelegt und durch jede neue Generation von Jugendlichen, die das Bildungssystem im ehemaligen Westteil Deutschlands durchschritten haben, assimiliert. Das im Rahmen dieser Sozialisierung entstandene Stereotyp ist je nach Berufsgruppe mal mehr mal weniger intensiv ausgeprägt – am deutlichsten findet man es erwartungsgemäß im Dienste-nahen Umfeld, bei (ehemaligen) Angehörigen hierarchisch strukturierter Organisationen sowie natürlich bei Politikern, die im Rahmen ihrer Berufspolitikerkarriere bei verschiedenen ThinkTanks und Lobbyistenverbänden vorbeigekommen sind. Die Sichtweise ist hierbei recht schnell charakterisiert: Rot vs. Blau, Gut vs. Böse, Demokratie vs. Diktatur, Wir vs. Die.
Mit Blick auf die Russlandkontroverse zeichnen sich die Anhänger der Religion der einfachen Wahrheiten dadurch aus, dass sie in ihrer jeweiligen Rolle keine Gelegenheit verstreichen lassen, Russland und die dortige politische Führung als irre Kriegstreiber darzustellen, die nur darauf warten, in Europa einzumarschieren. Diese Prämisse wird im breiten gesellschaftlichen Umfeld nicht weiter in Frage gestellt, denn zum einen widerspiegelt sie den eigenen Glaubenshorizont der Nachrichtenadressaten und zum anderen möchte man auch vermeiden, zum Lager der sog. “Russlandfreunde” geclustert zu werden. Gerade der letztgenannte Grund trägt insoweit Risiko in sich, als dass das blau-braune Nazipack selbst ein gewisses Eigeninteresse an Russland entwickelt hat. Der Begriff des Russlandfreunds ist damit zum Bezugspunkt der gesamtgesellschaftlichen Integritätsmessung für den “Standardbürger” geworden – hopp oder top, Nazi oder Demkrat – nur aufgrund der eigenen Stellung zu Politik Russlands im Allgemeinen und zum Ukraine-Krieg im Besonderen. Und so finden sich in Anlehung an “#JeSuisCharlie” nunmehr in jedem nur denkbaren Social Media-Profil die Flagge der Ukraine, die den eigenen moralisch überlegenen Standpunkt deutlich machen soll.
Klar – es gibt ein paar Verweigerer dieser Mainstream-artigen moralischen Selbstentblößung. Leider lassen sich diese dann aber vor allem denjenigen Landstrichen in der Bundesrepublik geografisch zuordnen, die darüber hinaus schon unter der Last der blau-braunen Färbung leiden. Auf diese Weise schließt sich dann auch der Kreis der Vorurteile: “Ossis” sind Nazis, Nazis sind Russlandfreunde und Russlandfreunde sind zumeist wiederum Ossis. Insoweit haben die Ossis in dieser Diskussion auch die Klappe zu halten, denn wer seine Sozialisierung im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat erfuhr, hat jegliche Einschätzungsprärogative in Bezug auf die innerdeutsche Gesellschaftsentwicklung im Allgemeinen und Deutschlands Stellung zu Russland im Besonderen grundsätzlich verloren. Eigentlich auch nur konsequent: Wer nicht die Segnungen der Demokratie und Marktwirtschaft von Kind auf genossen hat, sondern vielmehr vom politischen Feind indoktriniert wurde, hat das Recht verwirkt, sich zum Thema Russland im öffentlichen Diskurs zu Wort zu melden.
Nun kommen wir aber zum eigentlichen Thema dieses Beitrags zurück: der historischen Bewertung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Im Schlagabtausch der Argumente, ob dieser Krieg allein durch Russland oder aber vielleicht auch durch die Vereinigten Staaten und deren Verbündete verursacht wurde, wird häufig das Arggument des Wortbruchs der ehemaligen Alliierten gegenüber der UdSSR im Rahmen des am 12.09.1990 in Moskau abgeschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrages angeführt. Insbesondere wird hier immer wieder auf die Verletzung der Sicherheitsinteressen Russlands durch die NATO-Osterweiterung und die Verlagerung von NATO-Truppen in nunmehr souveräne, ehemalige Sowjetrepubliken hingewiesen. Während Russland auf diese implizit im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verträge abgegebene Zusicherung referenziert und somit die NATO-Osterweiterung als eine gegen den Geist des Zwei-plus-Vier-Vertrages verstoßende Maßnahme bezeichnet, stellt sich die NATO und allen voran die Vereinigten Staaten auf den Standpunkt, dass es nie eine Vereinbarung zum Verbot einer NATO-Osterweiterung gegeben habe und die NATO-Truppenansammlung rund um die russische Grenzen mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag vereinbar sei. Das dabei die Vereinigten Staaten selbst als Ergebnis des Schweinebucht-Fiaskos in Kuba 1962 eine völkerrechtswidrige Seeblockade rund um Kuba errichteten, um Nikita Chruschtschow daran zu hindern, im Vorgarten der Vereinigten Staaten Atomraketen zu stationieren, ist natürlich mit Russlands Interesse, nicht von NATO-Truppen umzingelt zu sein, in keinester Weise vergleichbar.
Interessant ist, dass Professor Jeffrey Sachs, welchen man nicht zwingend zu den Freunden Russlands zählen würde, nunmehr mit dem amerikanischen Exzeptionalismus abrechnet, indem er zu den Ursachen des Ukrainie Kriegs Stellung bezieht. Er hielt Ende letzten Jahres eine Rede an der Cambridge University mit anschließender Fragerunde im Debating Chamber. Die Aufzeichnung dieser Rede findet sich bei YouTube. Das deutsche Transkript zum Themenbereich Ukrainekrieg ist nachfolgend als Zitat wiedergeben. Weiter Beiträge von Jeffrey Sachs finden bei Common Dreams.
Lassen Sie mich in zwei Minuten den Ukraine-Krieg erklären. Dies ist kein Angriff von [Wladimir] Putin auf die Ukraine in der Weise, wie man es uns täglich erzählt. Das begann 1990, am 9. Februar. James Baker III, unser damaliger Außenminister, sagte zu Michail Gorbatschow: Die NATO wird sich keinen Zoll nach Osten bewegen, wenn du der deutschen Wiedervereinigung zustimmst – im Grunde also dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und Gorbatschow sagte: Das ist sehr wichtig. Ja, die NATO bewegt sich nicht, und wir stimmten der Wiedervereinigung zu.
Die USA haben dieses Versprechen dann gebrochen, und zwar schon 1994, als [Bill] Clinton im Grunde einen Plan zur NATO-Erweiterung bis zur Ukraine abzeichnete. Zu dieser Zeit übernahmen die sogenannten Neokonservativen die Macht, und Clinton war ihr erster Akteur. Die NATO-Erweiterung begann 1999 mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik. Damals war es Russland noch relativ egal. Es gab keine direkte Grenze – außer Kaliningrad – also keine direkte Bedrohung.
Dann führten die USA 1999 die Bombardierung Serbiens an – übrigens schlimm –, denn das war der Einsatz der NATO, um eine europäische Hauptstadt, Belgrad, 78 Tage lang ununterbrochen zu bombardieren, um das Land zu zerschlagen. Den Russen gefiel das überhaupt nicht, aber Putin wurde Präsident. Sie schluckten es. Sie beschwerten sich, aber selbst Putin begann pro-europäisch, pro-amerikanisch. Er schlug sogar vor, dass Russland vielleicht der NATO beitreten sollte, als es noch die Idee einer gegenseitig respektvollen Beziehung gab.
Dann kam der 11. September. Dann Afghanistan, und Russland sagte: Ja, wir unterstützen euch. Wir verstehen das, Terror auszurotten. Aber dann folgten zwei entscheidende Schritte: 2002 stiegen die Vereinigten Staaten einseitig aus dem ABM-Vertrag (Vertrag über antiballistische Raketenabwehr) aus. Das war wahrscheinlich das entscheidendste Ereignis, das in diesem Zusammenhang kaum diskutiert wird. Aber es führte dazu, dass die USA Raketenabwehrsysteme in Osteuropa installierten – ein Vorgang, den Russland als direkte Bedrohung seiner nationalen Sicherheit ansieht. Diese Systeme könnten einen Enthauptungsschlag gegen Moskau ermöglichen, da die Raketen nur wenige Minuten entfernt wären. Wir installierten zwei Aegis-Raketenabwehrsysteme. Wir sagen: Das ist Verteidigung. Russland sagt: Woher wissen wir, dass das nicht nuklear bestückte Tomahawk-Raketen sind? Ihr sagt, das habe nichts damit zu tun – aber 2002 stiegen wir einseitig aus dem ABM-Vertrag aus. Und 2003 haben wir den Irak auf komplett falscher Grundlage überfallen – wie ich schon erklärt habe.
2004–2005 betrieben wir einen „sanften“ Regimewechsel in der Ukraine – die sogenannte erste Farbrevolution. Damals kam jemand ins Amt, den ich kannte, mit dem ich befreundet war, und es auch irgendwie noch bin – Präsident [Wiktor] Juschtschenko. Ich war Berater der ukrainischen Regierung 1993–1995. Und die USA hatten damals schon ihre schmutzigen Hände im Spiel. Sie sollten sich nicht in die Wahlen anderer Länder einmischen. Aber 2009 gewann [Wiktor] Janukowytsch die Wahl, und er wurde 2010 Präsident mit dem Versprechen einer neutralen Ukraine. Das beruhigte die Lage. Denn die USA drängten auf einen NATO-Beitritt, aber laut Umfragen wollte das ukrainische Volk das gar nicht. Die Menschen wussten, das Land ist zwischen ethnischen Ukrainern und ethnischen Russen gespalten. Warum sollten wir uns einmischen? Wir wollen mit euren Problemen nichts zu tun haben.
Am 22. Februar 2014 beteiligten sich die USA aktiv am Sturz Janukowytschs – ein typischer US-Regimewechsel, keine Frage. Und die Russen taten uns einen Gefallen: Sie fingen ein sehr unschönes Telefonat ab, zwischen Victoria Nuland – meiner Kollegin an der Columbia University übrigens – (und wenn Sie ihren Namen kennen und was sie so getan hat, haben Sie bitte Mitleid mit mir) – und dem US-Botschafter in der Ukraine, Geoffrey Pyatt, der bis heute ein hoher Beamter im Außenministerium ist. Sie sprachen offen über den Regimewechsel. Wer sollte in die neue Regierung? „Warum nehmen wir nicht den?“ – „Nein, [Witali] Klitschko sollte nicht rein, lieber [Arsenij] Jazenjuk.“ – „Ah, ja, Jazenjuk.“ – Und: „Wir holen den großen Kerl – Biden – der gibt dann ein ‚Attaboy‘, also einen Schulterklopfer.“ Sie haben die neue Regierung gemacht. Ich wurde kurz danach eingeladen, dorthin zu reisen – ohne diese Hintergründe zu kennen.
Einige davon wurden mir auf ziemlich unschöne Weise vor Ort erklärt. Die USA hatten sich also beteiligt. Und dann sagten sie: Okay, jetzt wird die NATO wirklich erweitert. Und Putin sagte immer wieder: Hört auf, ihr habt versprochen, keine NATO-Osterweiterung. Ach ja, ich habe vergessen: 2004 kamen Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien dazu – sieben Länder, trotz des Versprechens „kein Zoll nach Osten“.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die USA lehnten den grundlegenden Gedanken immer wieder ab: keine NATO-Erweiterung an Russlands Grenze, während wir Raketenabwehrsysteme installieren und Verträge brechen. 2019 stiegen wir aus dem INF-Vertrag (Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen) aus.
2017 stiegen wir aus dem JCPOA (Atomabkommen mit dem Iran) aus. Das war eigentlich ein Vertrauensaufbau. Kurzum: Es ist eine völlig rücksichtslose US-Außenpolitik. Am 15. Dezember 2021 legte Putin einen Entwurf für ein Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Russland vor. Man kann es online finden. Die Basis: keine NATO-Erweiterung. Ich rief in der Woche danach im Weißen Haus an und flehte sie an: Führt Verhandlungen! Putin hat ein Angebot gemacht, vermeidet diesen Krieg. – „Oh Jeff, es wird keinen Krieg geben.“ – „Dann verkündet, dass die NATO sich nicht erweitert.“ – „Mach dir keine Sorgen.“ – Ich sagte: „Ihr werdet einen Krieg führen wegen etwas, das angeblich sowieso nicht passiert? Warum verkündet ihr es nicht einfach?“ – „Nein, nein, unsere Politik ist die Open-Door-Politik.“ (Das sagte Jake Sullivan.) „Offene Tür für NATO-Erweiterung.“ Das fällt unter die Kategorie „Bullshit“, ganz nebenbei bemerkt.
Man hat nicht das Recht, Militärbasen überall zu errichten, wo man will, und dabei Frieden zu erwarten. Man braucht Klugheit. Es gibt kein Recht auf eine „offene Tür“, in dem Sinne: „Wir sind da, wir stellen unsere Raketen auf, das ist unser gutes Recht.“ So ein Recht existiert nicht. 1823 erklärten wir mit der Monroe-Doktrin: Europäer haben in der westlichen Hemisphäre nichts verloren – und zwar in der ganzen westlichen Hemisphäre.
Wie dem auch sei: Die Verhandlungen wurden abgelehnt. Dann begann die „spezielle Militäroperation“, und fünf Tage später sagte Selenskyj: Okay, okay, Neutralität. Dann sagten die Türken: Wir vermitteln. Ich flog nach Ankara, um mit den türkischen Unterhändlern zu sprechen, weil ich wissen wollte, was da läuft. Und was da lief, war: Man hatte sich auf ein Abkommen geeinigt – mit ein paar Kleinigkeiten. Doch die USA und Großbritannien sagten: „Auf keinen Fall! Ihr kämpft weiter. Wir stehen hinter euch.“ – Aber nicht vor euch. Ihr werdet alle sterben, aber wir stehen hinter euch – während wir sie weiter an die Front drängten. Jetzt sind 600.000 Ukrainer tot, seit Boris Johnson nach Kiew flog, um ihnen zu sagen, sie sollen mutig sein. Es ist absolut grauenhaft.
Wenn du also über deine Frage nachdenkst, musst du verstehen: Wir haben es nicht mit einem verrückten Hitler zu tun, wie man uns täglich erzählt – einem, der angeblich Europa erobern will. Das ist kompletter Unsinn, eine falsche Geschichtserzählung, ein reines PR-Narrativ der US-Regierung. Es hält keiner Überprüfung stand, nicht bei jemandem, der sich auskennt. Und wenn du versuchst, auch nur ein Wort davon zu sagen – ich wurde 2022 komplett von der New York Times rausgeworfen, nachdem ich mein Leben lang dort Kolumnen geschrieben hatte. Ich schickte ihnen das. Und online ist ja nicht mal Platz das Problem – sie könnten 700 Wörter bringen. Aber sie veröffentlichten seitdem keinen einzigen Text von mir, keinen mit 700 Wörtern über das, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, über diesen Krieg. Sie tun es nicht. Wir spielen hier Spielchen. Und Gott bewahre, dass eine Atommacht uns gegenübersteht. Ich weiß nicht, was dann passiert – aber wir sind auf sie losgegangen.